ERZÄHLUNGEN









Die kürzeste Geschichte aller Zeiten - Karl Brunner

Sauber- von Karl Brunner

Die Mutzung des Bingels - von Albert V. Neumann

Hauptgewinn - von Manfred Weiss

Das seltsame Leben des Karl B. - von Johannes König

Der Dämon - von Johannes König



- sämtliche Rechte: Verlag der anderen Seite / station23 -










Die kürzeste Geschichte aller Zeiten


war so winzig, daß sie schon gleich nach ihrer Niederschrift verlorenging. Der Autor hatte sich nur einmal kurz umgedreht, und schon war sie verschwunden.
Nun liegt sie vielleicht versteckt in einer Fußbodenspalte, oder der Wind hat sie hinausgetragen ... - wer weiß ?
Jedenfalls ist sie bis heute unauffindbar geblieben.








Sauber


Mithilfe sämtlicher Reinigungsmittel, Öle und sonstiger Chemikalien waren bis auf die Menschen fast alle Lebewesen, Tiere wie Pflanzen, ausgerottet. Die Meere tot, das Land kahl und öde, die Luft vergiftet - weltweit.
Die Nahrung wurde längst synthetisch hergestellt, seit einiger Zeit ebenfalls die Atemluft, und nun waren auch die letzten natürlichen Trinkwasserresservoirs endgültig verseucht, und die Industrie verkaufte teures Kunstwasser.
Da bahnte sich die hilflose Wut der Massen ihren freien Lauf. Ämter und Behörden wurden gestürmt und vernichtet. Fabrikanlagen wurden sabotiert und ganze Wirtschaftszweige durch wilde Generalstreiks lahmgelegt. Der Schaden ging in die Billiarden. Und die politische Situation eskalierte und drohte, trotz massivster militärischer Maßnahmen, endgültig außer Kontrolle zu geraten.
Langsam begangen die Herren Chef-Kassierer einzusehen, daß sie sich bei dem Geschäft mit dem Durst verrechnet hatten. Und so brachte man ein Mittelchen auf den Markt, dessen Patent man schon vor Jahrzehnten aufgekauft und alle Mitwisser ausgeschaltet hatte: eine harmlose kleine Bakterie, welche die erstaunliche Fähigkeit besaß, wie ein Katalysator auf das sie umgebende biologische Milieu zu wirken und die idealen ökologischen Verhältnisse um sich herum zu schaffen, und zwar ideal für sämtliche beteiligten Organismen. Kurz gesagt, sie war in der Lage, Luft, Wasser und Erde zu reinigen.
Jene bacteria meyerensis fortissima, wie ihr wissenschaftlicher Name lautete, war nicht nur äußerst resistent, sondern auch sehr anpassungsfähig. Außerdem war sie während ihrer langen Gefangenschaft in den Kühlhäusern noch ein klein wenig mutiert; sie konnte nun ihre Fortpflanzungsgeschwindigkeit gegebenenfalls unbegrenzt steigern - und dies nur, weil die gefrorene Luft im Reagenzglas ein klein wenig verschmutzt gewesen war. Durch die zusätzliche Unachtsamkeit eines Bio-Ingenieurs der Qualitätskontrolle wurde übersehen, daß die Anzahl der aus minus 65° Celsius aufgetauten Verpackungseinheit nicht 103 „Objekte“, wie es der Montagezettel forderte, sondern 108 kleine, feine, niedliche und friedliche Lebewesen enthielt.
Einen Tag später war die erste Charge im Handel. Das Mittel funktionierte überall, und ausnahmslos; selbst normales Leitungswasser wurde wieder zu köstlichem frischen Trinkwasser. Und so beruhigte sich auch der Mob wieder.
Am selben Tag bereits gelangten die ersten meyerensis fortissimae in die Natur, und eine Woche später waren die Flüsse sauber, und längst ausgestorben geglaubte Fischarten erschienen wieder.
Nach einem Monat waren die Meere rein, und ganze Regionen begannen von neuem zu erblühen. Paradiesische Landschaften breiteten sich rasant aus. Und niemand mehr brauchte draußen eine Atemmaske.
Nach zwei Monaten traten die ersten Erkrankungen bei den Menschen auf, die dem normalen Bild organischer Erkrankungen diametral widersprachen; wurden sonst sämtliche Abwehr- und Regenerationskräfte aktiviert, so schien hier jemand oder etwas dem gesamten Organismus zu sagen: „Höre auf zu leben!“ Die Kranken starben innerhalb eines Tages.
Nach einer weiteren Woche war der Verursacher gefunden. Es war unsere liebe kleine fortissima, die nur ihre Arbeit verrichtete, nämlich dem Übel auf den Grund zu gehen.
Die Bakteriologen, Mediziner, Biochemiker und alle vom Klempner bis zum Atomphysiker hatten nur noch ein Ziel: schnellstens ein wirksames Gegengift oder was auch immer zu finden. Denn sie wußten, sie waren alle schon infiziert.
Aber ihre Zeit reichte nicht aus. Drei Tage später starb der letzte Mensch. Er starb, nebenbei gesagt nicht durch die fortissima; er war nämlich nicht infiziert, sondern hatte ausschließlich das teure Kunstwasser aus den Raffinerien benutzt, solange es dieses noch gab. Er war ein etwas sonderbarer Millionär, der seit seiner frühesten Kindheit ein wenig paranoid war und sich jetzt in dieser Katastrophe endlich bestätigt fand. Doch nützte ihm diese Genugtuung nichts. Als seine Vorräte an Kunstwasser aufgebraucht waren, beschloß er, trotz aller Warnungen und wissenschaftlicher Erkenntnisse, normales, ungereinigtes, aber von der fortissima freies Restleitungswasser aus seinen lange nicht mehr benutzten Kellerrohren zu trinken. Die Frage, ob dies ein Fehler war, beziehungsweise die Frage, ob man den Fachleuten trauen darf, war zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr relevant. Der Organismus des reichen Sonderlings kollabierte gleich nach dem ersten Schluck an einem Nitrat-, Dioxin- und Schwermetallschock.
Merkwürdigerweise verschwand bald nach dem letzten Menschen auch die letzte bacteria meyerensis fortissima.
Sie hatte ihre Aufgabe erfüllt und für Ruhe und Ordnung im System gesorgt, und im Nachherein scheint es so, als sei der Mensch doch nicht das intelligenteste Lebewesen auf der Erde gewesen, oder zumindest, daß es auf sogenannte Intelligenz nicht ankommt.
Allerdings darf man nicht vergessen, daß jene kleine Bakterie selbst ein künstliches Geschöpf eben dieser menschlichen Intelligenz gewesen ist, nämlich eine spezielle Züchtung eines gewissen Dr. Meyer aus Wahrstadt, dem sein Meisterwerk wohl etwas besser geglückt war, als er beabsichtigt haben mag.








Die Mutzung des Bingels


-- eine wunderbare Begebenheit --

Tante Olga hatte vorige Woche nocheinmal angerufen und mich gebeten, doch wirklich auf das Familienfest zu kommen.
Ursprünglich wollte ich absagen, wie schon seit Jahren; aber nachdem mir die Tante eindringlich versichert hatte, daß man sich auf meine Teilnahme freute, ließ ich mich dazu überreden.
Ich war nämlich so etwas wie das schwarze Schaf in der Familie, beziehungsweise genauer gesagt: ich war der einzige von ihnen, der ein normales, ordentliches Leben führte und einer anständigen, geregelten Beschäftigung nachging (ich war PR-Manager bei einen internationalen Konzern) - im Gegensatz zu allen meinen Verwandten, die samt und sonders Tagediebe, Gammler, Spinner und Taugenichtse waren. Mithin war ich das einzige weiße Schaf in einer schwarzen Horde.
In den letzten Jahren hatte ich deshalb die Kontakte zur Familie weitgehend eingeschränkt, um nicht zu sagen abgebrochen, wenn man von den wenigen Ausnahmen, wo Tante Olga anrief, absieht.
Nun gut, sie wollten, daß ich käme, und ich würde kommen. Sie hielten sich alle für etwas Besseres, Künstler, Musiker, Literaten, Schauspieler oder so, jedenfalls für kulturell und kultiviert, und lächelten mitleidig zu mir herunter, weil sie mich als einen „Materialisten“ und „Workoholic“ ansahen, der für die Musen und das wahre Leben verloren gegangen war. Dabei waren sie nur ein versoffener Haufen verkrachter Existenzen, anmaßend und eingebildet. Und heute abend würde ich kommen, auf ihren eigenen Wunsch, und mit ihnen allen abrechnen.
Es wurde gerade dunkel, als ich auf den Platz des alten Landgasthofes fuhr, der außerhalb der Stadt am Fuße der Berge lag, gemütlich zwischen dem Wald und einem kleinen See gelegen.
Mein Vetter Hugo, der alte Säufer, hatte wie eigentlich jeder der Familie auf seine Weise seine Leidenschaft zum Beruf gemacht und das Etablissement vor etwa zwanzig Jahren aus einen bescheidenen Erbe gekauft und betrieb es seitdem mit vollstem Eifer.
Er und Tante Olga waren die beiden einzigen, die noch einen einigermaßen bürgerlichen Beruf hatten und damit ein halbwegs gesichertes Ein- und Auskommen.
Ja, die Tante hatte ich als Kind sogar verehrt: sie unterhielt nämlich eine Handpuppenbühne, die mich damals äußerst faszinierte, hatte einigen Erfolg gehabt, produzierte sogar eine Serie im Kinderfernsehen, und hatte sich mit etwas erspartem Geld ein Häuschen auf Formentera gekauft und verbrachte nun die meiste Zeit ihrer alten Tage dort unten und faulenzte in der Sonne. Sie hatte mich schon öfters eingeladen, ein paar Tage auf Urlaub zu kommen; aber ich hatte bisher noch nicht die Zeit dazu gehabt. Und wohl auch nicht die recht Lust.
Ich parkte meinen Alpha unter den alten Eichen vor dem Gasthof und ging direkt in den Biergarten auf der hinteren Seite. Schon im Näherkommen hörte ich, daß das Fest bereits in vollem Schwunge war; lautstark und ausgelassen drangen mir die Stimmen entgegen.
Hugo, Joe und Onkel Herbert waren sicher schon seit dem frühen Nachmittag am feiern.
Als sie mich sahen, brachen sie in tumultartigen Jubel aus.
„Mensch, Albert!“ rief Hugo. „So‘n Zufall! Was machst du denn hier?“
Und mein Bruder Joe sagte: „Den hab‘ ich doch schon ‘mal gesehen ...“
„Ja, das ist ein entfernter Verwandter von dir, Joe“, versetzte meine Cousine Lea.
„Hallo, Albert, laß dich umarmen, komm an meinen Busen!“ Sie lächelte verschmitzt, denn sie wußte, daß jeder wußte, daß sie eine phantastische Figur hat - und schon drückte sie mich an sich und sagte: „Ich freue mich, daß du auch da bist, ehrlich.“
Ich muß gestehen, sie verwirrte mich.
Die Zwillinge - absolut synchron - meinten:
„Ein Wunder ist geschehen: Albert ist da!“
Und Tante Frieda strahlte: „Welche Ehre für uns - Albert! Aber wahrscheinlich willst du nur Geld wechseln, zum Telephonieren oder so.“
„Tä-tää! Tä-tää! Tä-tää! Wolle mer ihn ‘neilasse?“ posaunte Onkel Carl.
Nur der Opa reagierte nicht, wie immer, für ihn schien alles, egal ob Katastrophe oder Glückstreffer, stets ganz normal zu sein.
Ich entgegnete darauf freundlich, aber zurückhaltend:
“‘n Abend alle zusammen; ich sehe, ihr seid noch ganz die alten geblieben“, und setzte mich an die Tafel.
Im selben Augenblick sagte Onkel Herbert zu Hugo:
„Du hast die Wette verloren, mein lieber Neffe, Albert ist hier, und ich kann jetzt den ganzen Monat umsonst saufen.“
Aber Hugo erwiderte nur trocken:
„Du prellst doch sowieso jedesmal die Zeche, du alter Gauner. - Prost!“
Und sie stießen so heftig an, daß der Schaum zu mir herüberspritzte.
Dann zapfte Hugo mir einen Maßkrug; das Faß hatte er sinnigerweise in Reichweite gleich neben seinem Platz aufgebaut.
Ich glaube, jetzt ist es an der Zeit, die übrigen meiner Verwandten vorzustellen.
Beginnen wir mit meinem Bruder Joe, dem Hippie. Er nennt sich selbst „Jivin‘ Joe“, seitdem er sein Studium abgebrochen hat und nun in einer Psychedelic-Band Orgel spielt. Gerade hat er einen provozierend riesigen Joint gebaut, wahrscheinlich aus seinem selbstgezüchteten Marihuana, und reicht ihn hinüber zu Lea, die sich von ihm - zu meiner Verblüffung - Feuer geben läßt.
Onkel Herbert kommentiert theatralisch lallend:
„Aber Kinner, ihr solloch kein Rauschift nehm‘, hick.“

Lea überrascht mich immer wieder. Sie hatte vor Jahren ihren Job als Sekretärin geschmissen und eine Ballettausbildung absolviert. Joe hatte damals gemeint, sie würde sich ihr Stipendium als Stripperin auf dem Kiez verdienen; ich halte das durchaus für möglich. Dennoch - ich habe sie einmal tanzen gesehen, und, unabhängig davon, daß sie wirklich eine Schönheit ist, ich glaube, sie hat Talent.
Der nächste ist Onkel Herbert, ein brotloser Maler, notorischer Weiberheld und Weitreisender. Heute lebt er von Kreide-Portraits, die er in den Einkaufszonen der Großstädte für die Touristen malt. Er hat schon drei Entziehungskuren hinter sich, aber vergeblich.
Dann ist da Tante Frieda, eine ehemalige Journalistin, die später irgendwelche Science-Fiction-Romane schrieb, bis sie zur Esoterik hinüberwechselte. Sie ist vielleicht die Stillste von allen.
Im Gegensatz zum Opa, der immer noch rüstig und sehr lebhaft war. Früher tingelte er als Provinzschauspieler durch die Lande; jetzt war er Rentner und betrieb zusammen mit einem Freund aus alten Zeiten eine Schafszucht irgendwo im Hinterland.
Der nächste ist Onkel Carl, ein fanatischer, aber völlig erfolgloser Jazz-Saxophonist, der sich heute als freier Musiklehrer durchschlug. Er hat drei uneheliche Kinder von drei verschiedenen Frauen.
Erstaunlicherweise zog auch er gerade an eben jenem Joint.

Und schließlich sind da noch die Zwillinge, eineiige Mädels, die wie Pech und Schwefel zusammenklebten und die gerade, kurz vor dem Abitur, die Schule aufgegeben haben und jetzt nur noch für ihre Akrobatik und ihre Jongliererei lebten. Es ist schon erstaunlich, wie die zwei so synchron agierten, sprachen und wohl auch dachten; man möchte fast an Telepathie glauben. Aus ihnen könnte vielleicht einmal etwas werden.
„Na, Albert, alte Granate! Da staunst du was, daß uns alle noch nicht der Teufel geholt hat!“ rief Vetter Hugo und stieß mit mir an.
„Unkraut vergeht eben nicht“, entgegnete ich.
„Willst du damit sagen, daß du endlich begriffen hast, daß du auch nur ein Mensch bist?“
„Alter Optimist!“ sagte Onkel Carl und schlug Hugo auf die Schulter.
„Aber, Kinder, reißt euch doch ‘mal zusammen und freut euch, daß Albert auch hier ist“, versuchte Tante Olga die Onkels zu bremsen.
„Du meinst wohl, unser Sensibelchen könnte sich von uns vertreiben lassen, bevor jener zuvor erwähnte Herr und Ehrenmann uns alle abholen kommt?“ lachte Joe. „Schließlich bist du einer von uns. Albert, und wir müssen doch aufpassen, daß deine Seele nicht vorzeitig abhanden geht, auch wenn es schon so scheint.“
„Du bist mir viel zu bekifft, als daß du mich in irgendeiner Weise beeindrucken kannst. Wenn du wüßtest, wie lächerlich du bist, du Möchte-Gern-Rock-Star.“
„Das sehen meine beiden Freundinnen aber anders. Außerdem solltest du nicht über Dinge reden, die du nicht beurteilen kannst. Allerdings ließe sich das ändern, Bruderherz - willste ‘mal deinen Horizont erweitern?“ Und er reichte mir den Joint, was ich geflissentlich übersah.
Onkel Carl übernahm den Joint und raunte mir zu:
„Sehr vernünftig, Albert, einmal ziehen und schon bist du verloren, für immer und ewig, und mußt deinen Schlitten dann in der Gosse parken.“
Alles lachte, und ich zischte: „Du bist doch nur neidisch, alter Penner!“
Aber Onkel Carl antwortete heiter:
„Prost, auf alle Frühaufsteher!“
Und wieder lachten alle, und Hugo servierte die nächste Runde Maßkrüge.
Kurzum, sie provozierten mich wie immer in ihrer ordinären, arroganten Art. Bisher hatte ich es stets für unter meiner Würde gehalten, auf ihr kindisches Benehmen einzugehen, und sie einfach ignoriert; aber diesmal konterte ich auf alles, hart und direkt, und schlug gnadenlos zurück, so daß sich bald ein heftiges Wortgefecht entwickelte, bei dem sie sich auch untereinander nicht verschonten. Dennoch waren alle Bemerkungen, die fielen, freundlich und witzig, und es herrschte eine fröhliche und ausgelassene Stimmung, und mir wollte es einfach nicht gelingen, sie aus der Fassung zu bringen; im Gegenteil, ich ließ mich sogar von ihrer Heiterkeit anstecken und begann, ohne daß ich es bewußt merkte, mich in dieser Atmosphäre von unbefangener Offenheit und tiefer, vertrauter Herzlichkeit wohl zu fühlen. Irgendwie fing ich an, sie zu verstehen: sie sind eben so, wie sie sind, und keiner von ihnen wollte anders sein, als er war. Und ich begann nach und nach, jeden einzelnen von ihnen zu mögen.
Inzwischen war viel Bier geflossen (und waren auch noch einige von Joe‘s Joints gekreist), und die Stimmung wurde immer aufgelöster, als Tante Olga die Bemerkung in die Runde warf:
„Kinder, ist euch eigentlich aufgefallen, daß Albert seine Cousine Lea völlig ignoriert?“
Für einen Augenblick herrschte Schweigen.
Ich selbst stutzte; nun, ja, Lea - was sollte ich dazu sagen ...?
„Da hat sie aber Glück gehabt“, meinte der Opa.
„Ja, Lea, solltest ihm richtig dankbar dafür sein, daß du jetzt nicht so am Boden zerschmettert bist, wie wir anderen alle“, sagte Onkel Herbert, rotbäckig und rotnasig.
„Gut, dann wollen wir doch ‘mal sehen, ob ich dich nicht aus der Reserve locken kann, Albert. Ich tanze jetzt für dich - und nur für dich“, sagte Lea, überhaupt nicht spöttisch.
„Aber ‘was Zünftiges, liebe Cousine, Bauchtanz oder am besten ‘nen Strip, wie früher“, rief Joe, und die Onkels taten lautstark ihren Beifall kund.
„Ja, Lea, führe Albert einmal die Kundalini vor“, stimmte Tante Frieda geheimnisvoll zu.
„Okay“, sagte Lea, „dann brauch ich eine Barmusik dazu. Carl? Joe?“
Die beiden intonierten mit Saxophon und Gitarre eine schwüle Melodie, und Lea betrat eine imaginäre Bühne und begann zu tanzen.
,Sie ist wunderbar‘, dachte ich, und ich spürte, wie sich in meiner Brust eine tiefe, wohlige Wärme ausbreitete, und bisher unbekannte Gefühlswelten taten sich in mir auf.
Sie ließ mit einer göttlichen Grazie ihre Bluse fallen, und die Herrenriege rief:
„Bravo!“
Was eine Familie!
Da realisierte ich plötzlich, daß sie mich mitgerissen hatten, und daß ich die Seite gewechselt hatte. Diese Erkenntnis entsetzte mich derartig, daß ich die Beherrschung verlor; und, mehr ärgerlich über mich selbst, als über die anderen, wurde ich wütend (außerdem wollte ich irgendwie nicht, daß Lea weitertanzte) und sprang auf und rief:
„Ihr seid ein Haufen Perverser und Psychopathen!“
Doch Hugo legte beruhigend seinen Arm um meine Schulter und sagte:
„Aber, Albert! Wer wird denn aus der Art schlagen? - Hast du schon ‘mal dein Bingel gemutzt?“
„Wie bitte, was?“ fragte ich irritiert.
„Dein Bingel gemutzt“, wiederholte Hugo.
„Was ist das denn?“
„Das ist eine Spezialität des Hauses“, sagte Hugo.
Neben deiner Zimmertür befindet sich ein roter Knopf. Den solltest du heute nacht ‘mal drücken.

Überhaupt, alle miteinander, es ist spät, laßt uns schlafen gehen.“
Alle wünschten sich eine gute Nacht, und die Runde löste sich bald auf.
Jener obskure rote Knopf befand sich tatsächlich neben meiner Zimmertür, und, betrunken wie ich war, drückte ich darauf und dachte nicht weiter darüber nach.
Als ich kurze Zeit später im Bad stand, sah ich im Spiegel, wie mit einem Mal meine Ohren immer größer und schwerer wurden, bis sie mir schlappig auf die Schulter hingen.
War ich so betrunken?!
Aber noch bevor ich mit den Händen überprüfen konnte, ob es nur eine Sinnestäuschung war, tat es plötzlich einen lauten Knall, und meine Ohren waren verschwunden, alle beide, einfach weg!
Ich war taub; ob es an dem lauten Knall oder daran lag, daß die Ohren fehlten, wußte ich nicht. Fassungslos betastete ich die leeren, glatten Stellen hinter meinen Wangen.
,Mein Gott, so besoffen kann man doch gar nicht sein! - Am besten ich gehe sofort schlafen‘, dachte ich mir.
Ich hatte in der Tat ziemlich starke Gleichgewichtsstörungen und mußte mich am Stuhl und am Tisch festhalten.
Schließlich lag ich im Bett; aber ich konnte nicht einschlafen. Ständig kreisten meine Gedanken um die Familie und besonders um Lea und natürlich um meine fehlenden Ohren.
Nach einer Weile hörte ich unheimliche, raschelnde Geräusche draußen vor der Tür.
Ich machte Licht, um der Sache auf den Grund zu gehen; da sah ich, wie langsam, viel zu langsam die Türklinke heruntergedrückt wurde. Mir sträubten sich instinktiv die Nackenhaare.
Jetzt sprang plötzlich die Tür auf, und die beiden übergroßen Ohren kamen im Gleichschritt hereinmarschiert, und - peng! Peng! zwei schallende Ohrfeigen - befanden sie sich wieder an ihrem alten Platz. Na, wenigstens hatte ich meine Ohren zurück. Ich wankte wieder ins Bett und schlief bald ein.
Am nächsten Morgen hatten meine Ohren wieder ihre normale Größe, und ich fragte mich, ob ich alles nur geträumt hatte.
Das Frühstück unten im Garten verlief herzlich und fröhlich. Keine Sticheleien, keine Überheblichkeiten, als sei es nie anders gewesen. Und niemand verlor ein Wort über den gestrigen Abend.

Inzwischen sind einige Wochen vergangen, und es ist noch hinzuzufügen, daß Lea und ich am nächsten Samstag heiraten werden. Unsere Flitterwochen wollen wir auf Formentera verbringen. Tante Olga hat uns ihr Häuschen zur Verfügung gestellt. (Sie besucht dann gerade eine Freundin in Kalifornien und kommt erst etwas später wieder.)
Und übrigens - meinen Job gekündigt habe ich auch; ich werde demnächst eine Künstleragentur eröffnen.








Hauptgewinn

- eine unwahrscheinliche Episode aus dem Leben des Herie W. -


Es kam natürlich alles auf einmal:
Vorgestern kündigte ihm sein Vermieter „wegen Eigenbedarfs“. Gestern morgen in der Firma überreichte ihm der Personalchef seine Entlassung „wegen innerbetrieblicher Umstrukturierung“. Und heute war Heries letzter Tag und Betriebsausflug.
Das Klima in der Firma SO-UND-SCHULZE war auf den ersten Blick blendend; man gab sich modern, dynamisch und offen. Doch hatte Deiser, offiziell der Hausdedektiv, tatsächlich aber Faktotum und Ansprechpartner für jeden Eventualfall, Herie schon am ersten Tag gewarnt, vorsichtig mit persönlichen Äußerungen zu sein. „Überlegen Sie gut, wem Sie hier was erzählen“, hatte er geblinzelt und ihm dabei freundschaftlich auf die Schulter geklopft.
Ja, Deiser war der einzige, der immer fair und hilfsbereit gewesen war. Und heute wußte Herie, daß er eigentlich gar nichts hätte sagen dürfen...
Man fuhr also mit dem Bus aus der Stadt hinaus, durch die weiße, auf eine seltsame Art reine und unschuldige Winterlandschaft zu einem bekannten Ausflugslokal in den Waldbergen jenseits von Wahrstadt. Dort hatte man den Saal angemietet und mit einer kümmerlichen, bereits ein wenig verblaßten Girlande „hergerichtet“.
Es gab wahlweise Bockwürstchen und Sinalco oder Hamburger und Coca-Cola.
Und da saßen sie nun alle beieinander: Oben an der Tafel um den Chef herum die überschminkten Sekretärinnen, die ständig kicherten und über ihre jeweils abwesenden Kolleginnen tratschten; dann das lower management und die Abteilungsleiter, die Unermüdlichen, immer mehr als perfekt, die aber, falls doch einmal ein Fehler unterlief, stets schon vorher wußten, wessen Verschulden es sein mußte; und dann der Personalchef, der sich bei der Belegschaft anbiederte und sie ausspionierte und alles aufs Kleinste dem Chef hintertrug; und nicht zuletzt der immer mürrische Prokurist, die graue Eminenz, ewiger Zweiter, der allerdings wußte, „wo die Leiche lag“, und der von allen, auch vom Chef, gefürchtet wurde.
Der Chef seinerseits war von allen gehaßt und verachtet; aber wenn er erschien, dann krochen sie ihm in den Arsch. Für die letzte Gehaltskürzung hatten sie sich sogar noch bei ihm bedankt, alle, bis auf den Prokuristen natürlich, der immer mürrischer und immer finsterer wurde.
Ja, der Chef, breit und jovial, trat er immer väterlich auf.
„Unsere Firma ist eine große Familie“, war sein Wahlspruch, und er hatte natürlich für jeden ein „offenes Ohr“, doch in Wirklichkeit war er ein gnadenloser Diktator, der auf alles mit einer Abmahnung reagierte, oder gleich mit Rausschmiß.

Und schließlich, unten an den groben Holztischen, saßen sie, die Arbeiter, Untertanen, still wie immer, und nur darauf bedacht, möglichst unbeschadet über die Runden zu kommen, so auch hier, als befänden sie sich nicht auf einer Betriebsfeier, sondern auf der Schicht, bei ihrem abgenutzten, kaputten Werkzeug und den veralteten, defekten und gefährlichen Maschinen, wo es ständig Verletzte gab, manchmal sogar Tote, und der Chef tobte jedesmal: „Ihr habt selber Schuld! Ihr seid dumm und faul! Wahrscheinlich verletzt ihr euch absichtlich!“ Hingegen wurden sie von ihm angefeuert mit Sprüchen wie: „Ihr solltet stolz sein, in unserer Firma arbeiten zu dürfen; wir sind ein international anerkanntes Unternehmen". Und: „Unsere Papierfabrik beliefert die größten Druckereien des Landes. Auf unserem Papier werden die Nachrichten der Welt verbreitet und die Bücher der Nobelpreisträger geschrieben“, hatte der Chef gesagt, geschwellt, als wollte er gleich wie Tarzan mit den Fäusten auf seiner Brust trommeln. (‚Und wo bleiben die Millionen, die sich mit unserem Papier den Hintern abwischen?‘ hatte sich Herie gefragt.) Und.: „Wir sind ein perfekt organisierter Betrieb; wir haben seit der Gründung anno 1859 noch nie rote Zahlen geschrieben!“ Und besonders: „Die neuerlich verbesserte Auftragslage erfordert es wieder einmal, den unbezahlten Sonderakkord auszuweiten.“ Über allem aber schwebte, wie ein Damoklesschwert, die ständige Drohung: „Wenn ihr nicht pariert, dann schmeiß ich euch alle ‘raus. Draußen warten tausende andere, die glücklich wären, wenn sie euren Job hatten.“

Es war eine langweilige Feier, und Herie begann sich langsam zu fragen, warum er überhaupt mitgefahren war.
Als krönenden Abschluß veranstaltete man nun ein gemeinsames Spiel, eine Art Schnitzeljagd. Die Suche ging durch den winterlichen Wald, dessen schwarze und blattlose Bäume im Schnee mit ihren verzackten Stämmen und Asten ein bizarres Muster bildeten, welches das unbestimmte, abendliche Zwielicht wie ein Netz durchwebte. Es war eine seltsame und befremdende Atmosphäre, in der es kein Licht, aber auch keine Schatten gab.
Die Suche ging weiter durch verlassene, dunkle Gärten, die wilder als der Wald waren, und weiter, hinab in eine unterirdische Anlage, ein stillgelegtes Bergwerk oder ein alter Bunker, deren Stollen vielerorts eingestürzt waren, so daß man nach oben hinaus den trüben Himmel sehen konnte, der wie ein Leichentuch über allem lag. Das unheimliche Dämmerlicht herrschte auch hier unten. Und weiter ging‘s, wieder hinauf in den Wald und durch die Gärten ...
Irgendwann kam Herie alles ziemlich absurd vor; und dann fiel ihm auf, daß sie alle schon zum dritten Mal im Kreis herumgelaufen waren - die Schnitzeljagd war völlig sinnlos: Es gab gar kein Ziel! Und niemand schien etwas zu merken.
Nun wurde er mißtrauisch: ‚Was wird hier eigentlich wirklich gespielt?‘ dachte er.
Da kam ihm aus einem der wilden Gärten eine Gruppe von Touristen entgegen, die ihm schon im Restaurant aufgefallen waren. Jetzt waren sie mit übergroßen Kapuzenmänteln als „Zwerge“ verkleidet und spielten offenbar ebenfalls irgendein Spiel. Der erste von ihnen fragte Herie, ob er sich verirrt hätte.

„Nein, wir machen eine Schnitzeljagd; aber ich glaube, es gibt gar kein Ziel.“
„Doch, doch“, sagte der „Zwerg“. „Wir kommen gerade vom Ziel.“
„So?“ zweifelte Herie.
„Ja, aber sicher. Gehen Sie nur durch diesen Garten hindurch, dann sind Sie bald da.“
Aber Herie wurde immer mißtrauischer. Was hatten diese Touristen mit seiner Schnitzeljagd zu tun? Und als die „Zwerge“ an ihm vorübergingen, hielt er kurzerhand den letzten von ihnen am Arm fest und sagte:
„Ich laß mich auf gar nichts mehr ein. Du bist jetzt meine Geisel. Zeig‘ mir den Weg.“
Der „Zwerg“ nickte nur.
Sie gingen durch den besagten Garten; er war größer und verwilderter als alle anderen. Seine „Geisel“ schien ihm gern Gesellschaft zu leisten und hakte sich frohgemut bei ihm unter.
Bald wurde der Garten zu einem undurchdringlichen Dickicht, und sie kamen nur noch mühsam voran, und gerade als Herie überlegte, ob es noch einen Sinn hatte, weiterzugehen, öffnete sich das dichte Gestrüpp, und sie befanden sich plötzlich auf einem freien Platz, in dessen Mitte ein dunkles und verwinkeltes Bauwerk stand, mit vielen Ecken, Giebeln und Nischen und mit vielen Löchern und kleinen Fenstern, in die man aber nicht hineinsehen konnte.
Es war jenes berühmte Orakel in den Bergen bei Wahrstadt, über das Herie bereits gehört hatte: ein mysteriöses sprechendes Bauwerk, von dem niemand wußte, wie lange es dort schon stand.
„Gib mir etwas von dir, und ich werde dir dein Schicksal enthüllen“, ertönte hohl eine Stimme aus seinem Inneren.
Herie überlegte, was er ihm geben könnte, und kramte in seinen Taschen. Da fiel ihm seine Stechkarte in die Hand.
‚Ja, die brauch ich sowieso nicht mehr‘, dachte er und schob sie in eine der zahllosen Öffnungen. Gleichzeitig sagte er:

„Ich will aber nicht gewinnen.“
Da antwortete die Stimme:
„Damit hast du gewonnen.“
Und der „Zwerg“, der die ganze Zeit still neben ihm gestanden hatte, mußte darüber lachen. Oh, wie hell klang seine Stimme!
Herie riß dem „Zwerg“ die Kapuze herunter und - es war eine wunderschöne, blonde Frau mit leuchtenden, blauen Augen. Sofort war er in sie verliebt, wie noch nie jemals zuvor in eine andere.
„Du bist so schön, ich könnte dich auf der Stelle heiraten“, sagte er.
Und sie versetzte:
„Ich dich auch.“
Es war genau die Frau, von der er sein ganzes Leben lang geträumt hatte.











Das seltsame Leben des Karl B.

und die denkwürdigen Ereignisse nach seinem Tode



Vorrede

Karl B. führte ein äußerst ödes Dasein, bis zu jenem bewußten Tage. Er lebte so eintönig, daß es kaum jemanden zuzumuten ist, davon auch nur entfernt zu erfahren. Der Vollständigkeit halber kann jedoch auf eine angemessen ausführliche Schilderung der Bedeutungslosigkeit des Bürgers Karl B. bis zum Tag seines Todes nicht verzichtet werden. Sie wird im ersten Kapitel erfolgen und der Verlag möchte sich dafür schon im Vornherein entschuldigen.
Dem eiligen Leser sei wegen dieses besonderen Umstandes hiermit ausnahmsweise einmal erlaubt, dieses erste Kapitel nur zu überfliegen, etwa wie man einen Fahrplan oder ein Telephonbuch überfliegt, um sodann in den weiteren Kapiteln mit desto erhöhter Aufmerksamkeit fortzufahren.




1. Kapitel

Karl B. war ein unauffälliger Mensch, der seinen Beruf - er arbeitete als Buchhalter in einem Büro - pflichtgemäß erfüllte wie jeder andere auch. Er wohnte allein in einer kleinen Mansardenwohnung, versorgte sich selbst und gab lediglich seine Hemden zur Heißmangel. Ansonsten hatte er noch nie etwas Großartiges geleistet, das ihn auf irgendeine Weise herausgestellt hätte. Seine einzige Leidenschaft war Briefmarkensammeln. Freunde oder Bekannte, läßt man den Kreis seiner Kollegen außer Betracht, hatte er auch keine. Ein Fernsehgerät brauchte er ebenfalls nicht, denn neben seinem Sessel stand ein Radio, nach dem stellte er jeden Morgen seine Uhr. Und sonntags ging er immer in dem kleinen Restaurant an der Ecke essen. Jedesmal Schweinebraten mit Kartoffelbrei.
Sieht man von diesen bescheidenen Ereignissen ab, geschah im wohlgeordneten Leben des Karl B. tatsächlich nichts. Und voraussichtlich würde sich auch fernerhin nichts außergewöhnliches ereignen.
So stand er jeden Morgen um halb sieben auf, holte die Zeitung herein, stellte das Radio an, setzte Wasser für den Kaffee auf, ging ins Bad, wusch sich, rasierte sich, kämmte sich, bürstete seine Zähne, worauf seine Haare wieder in Unordnung gerieten, kämmte sich also nochmals und kleidete sich an; auf einen korrekten Schlipsknoten legte er besonderen Wert. Inzwischen war das Wasser heiß. Er mischte sich eine Kanne Instant-Kaffee mit Kondensmilch, legte Messer und Löffel und stellte Teller und Tasse, Margarine und Erdbeermarmelade auf den Tisch, nahm auf seinem Stuhl Platz, schenkte sich ein und schmierte sich ein Erdbeermarmeladenbrot. Dann schlug er die Zeitung auf, und während er aß, las er zunächst die Schlagzeile, dann den Leitartikel und zuletzt den lokalen Teil, inzwischen waren im Radio die Nachrichten vorbei, und es erfolgte die Zeitansage; er stellte seine Uhr, schmierte sich die zwei Brote für die Frühstückspause, las dann den lokalen Teil zuende. Halb acht wickelte er die Brote in das Pergamentpapier vom Vortag, legte sie in seine braune Aktentasche, zog den Mantel an, nahm die Tasche, verließ die Wohnung und schloß zweimal ab.
Unten an der Haltestelle standen schon, wie jeden Morgen, der Dicke mit dem Sporthut und dem schiefen Schlips und die Frau mit den vielen Goldzähnen und den gefärbten Haaren. Nach zwei Minuten kam der kleine Schuljunge und nach einer weiteren schließlich der Bus, Linie 4. Karl B. stieg als letzter ein, zeigte dem Busfahrer seine rote Monatskarte vor; der sah schon gar nicht mehr drauf, in der dritten Reihe war noch ein Platz frei, er setzte sich, die Aktentasche auf den Knien; an der nächsten Haltestelle stieg die dicke Frau mit dem Blumenhut zu, er bot ihr seinen Platz an, und sie lächelte wie immer:
„Oh, wie aufmerksam.“
An der fünften Haltestelle stieg er aus, ging auf die andere Straßenseite, bog in die nächste Querstraße, und da war schon seine Firma. Er grüßte den Pförtner, der ihn stets mit der gleichen Routine zurückgrüßte.
Im dritten Stock war sein Büro; hier saßen noch drei Kollegen, er grüßte sie ebenfalls, hängte seinen Mantel an den zweiten Haken von links und setzte sich an seinen Schreibtisch. Hier war der Ort seines Schaffens.
Als erstes schob er die Akten von gestern auf die andere Seite, dann zählte er die Bleistifte nach. Es folgte nun der verantwortungsvolle Teil seiner Arbeit, er ordnete und sortierte die Akten, klappte zu, klappte auf, und versah sie mit kleinen Fußnoten und abgekürzten Verweisen.
Unterbrochen wurde seine Tätigkeit nur durch die Frühstückspause um halb zehn. Dann schob er die Akten beiseite, packte sein Marmeladenbrot aus, aß.
Viertel vor zehn, nachdem er das Pergamentpapier sorgfältig zusammengefaltet und wieder in seiner Aktentasche verstaut hatte, fuhr er mit der Arbeit fort, bis eins, dann war Mittagspause. In der Kantine saß er an seinem Ecktisch und verzehrte für zwei Mark dreißig Kartoffelsalat und Würstchen, ohne Senf.
Nachmittags schlug er die Akte für morgen auf, machte den Radiergummi sauber und spitzte die Bleistifte und begann, auf dem dicken Notizblock Strichmännchen zu malen. Um halb fünf war Feierabend.
Der Heimweg war derselbe wie der Weg herzu, dieselbe Monatskarte, derselbe Busfahrer, dieselben Gesichter, nur der mit dem schiefen Schlips fuhr manchmal nicht mit. Fünfte Haltestelle, er stieg aus, holte noch schnell etwas beim Kaufmann gegenüber ein; dann war er in seiner Wohnung, zog den Mantel aus, hängte ihn an den zweiten Haken von links, plazierte die neuen Lebensmittel im Kühlschrank, schenkte sich bei der Gelegenheit, wie immer, ein Glas Milch ein, nahm das Glas mit zu seinem Sessel, holte sein Briefmarkenalbum hervor, klappte es auf, und nun begann er sich von seiner Arbeit zu erholen; er ordnete und sortierte die Briefmarken, und machte dazu im Katalog kleine Fußnoten und abgekürzte Verweise. Um halb neun klappte er das Album wieder zu, ging ins Bad, wusch sich das Gesicht, kämmte sich, bürstete die Zähne, kämmte sich nochmals, dann entkleidete er sich und legte sich ins Bett. Vor dem Einschlafen dachte er noch daran, daß er Sonntag nach dem Essen wieder im Park spazierengehen würde. Er freute sich darauf.
Um neun war er eingeschlafen.




2. Kapitel

Eines Morgens - es versprach wieder einmal, ein ganz normaler Tag zu werden und Karl B. hatte gerade von seinem Erdbeermarmeladenbrot abgebissen, las er wieder einmal den lokalen Teil in der Zeitung. Oben standen die Geburtsanzeigen und die Verlobungs- und Hochzeitsanzeigen, und unten, wie immer, die Todesanzeigen.
Doch an diesem Morgen stutzte Karl B. Er laß nochmals und noch ein drittes Mal - da stand doch sein Name:
„Ganz überraschend
und für alle unerwartet
ist der Büroangestellte
Karl B. verstorben.“
‚Wie bitte?‘
Karl B. wußte nicht, was er davon zu halten hatte. Etwas stimmte nicht. Er vergaß sogar, seine Uhr zu stellen, als im Radio die Zeitansagerin ihm einen guten Morgen wünschte.
Er las die Anzeige ein viertes Mal, nein, da stand wirklich sein Name. Er trank erstmal noch einen Schluck Kaffee. Jetzt hieß es, Ruhe bewahren, die ganze Sache mußte überdacht werden.
Da stand sein Name. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Er, Karl B., sollte also verstorben sein. Diese Situation war für ihn mehr als unerwartet; sie war völlig neu. Er brauchte noch einen Schluck Kaffee. Dabei stellte er fest, daß die Kanne leer war. Ach, Herrgott! Wie spät war es überhaupt? Er hatte ja ganz vergessen, die Uhr zu stellen! Eilig sprang er auf, nahm den Mantel vom Haken, stellte ganz erschüttert fest, daß der Mantel auf dem dritten Haken von links gehangen hatte - dem dritten Haken, und nicht dem zweiten! - und vergaß darüber noch, die Aktentasche mit dem Marmeladenbrot für die Frühstückspause mitzunehmen. Er hastete aus der Wohnung, schlug die Tür zu, ohne abzuschließen, und stürmte die Treppe hinab.
Unten an der Haltestelle schöpfte er Atem, was war geschehen? Der Mantel hatte am falschen Haken gehangen, die ganze Welt war durcheinandergeraten. Und obendrein sollte er tot sein! - Es konnte sich hier nur um einen Irrtum handeln. Aber der Mantel hatte wirklich am falschen Haken gehangen! Jetzt versuchte er sich zu fassen, er blickte um sich. Die anderen, besonders der mit dem schiefen Schlips, sahen ihn so merkwürdig an. Hatten sie vielleicht auch schon den lokalen Teil gelesen?
Natürlich hatten sie. Jeder hatte! Und jeder wußte, daß er, Karl B., Schlagzeilen gemacht hatte. Er versuchte, ganz selbstverständlich auszusehen, wie immer, wenn der Chef nachmittags in sein Büro kam. Er wußte, daß es ihm diesmal mißlang.
Endlich kam der Bus. Der Fahrer sah ihn auch so merkwürdig an. Karl B. hielt es beinahe nicht mehr aus, am liebsten wäre er wieder ausgestiegen und zufuß gegangen; aber jetzt saß er schon, und der Bus fuhr los.
Er versuchte abermals, die Lage zu überdenken und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Er durfte jetzt keinen Fehler machen. ‚Unauffällig bleiben‘, dachte er, ‚un-auf-fällig bleiben!‘
Der Bus hielt, die Dicke mit dem Blumenhut stieg zu, und er wollte ihr wieder seinen Platz anbieten, doch sie war sehr freundlich und rücksichtsvoll und sagte:
„Nein, nein, bleiben Sie bitte sitzen.“
Er würgte und schluckte und blieb sitzen. Sie wußte es also auch.
- War doch vorherzusehen gewesen, es stand schließlich in der Zeitung.
Alle wußten es.
Da fiel ihm auf, wie beunruhigend still es im Bus war, es war sonst nie so still.
Er wischte sich den Schweiß, der immer kälter wurde, von seiner Stirn, die immer heißer wurde. Vorsichtig blickte er sich um, und - oh Schreck! - sämtliche Augen waren auf ihn gerichtet! Panik!
Karl B. sprang auf, der Bus hielt zufällig gerade, er wühlte sich verzweifelt durch die Fahrgäste, hastete nach draußen ...
Schließlich stand er auf der Straße, war endlich allein, der Bus war weitergefahren, doch auch die Passanten sahen ihn so merkwürdig an.
Karl B. lief los, als jagte ein unerbittlicher Feind nach seinem sowieso schon verlorenen Leben. Gehetzt blickte er immer wieder rückwärts, aber er sah und hörte nichts mehr, rempelte die erstaunten und empörten Passanten an und rannte sogar bei rot über die Straße. Er hatte nur noch einen Gedanken: ‚In die Firma!‘
Von weitem sah er schon den Pförtner, der war nicht wie immer in seinem Häuschen, sondern stand im Haupteingang. Keuchend fiel Karl B. in langsamen Schritt.
,Unauffällig bleiben‘, dachte er wieder.
Aber trotz seines gleichgültigen Gesichtsausdrucks, trotz seiner ganz selbstverstänlichen Haltung und trotz des diesmal völlig normal gelungenen Grußes (das wußte er sicher!) kam der Pfötner auf ihn zu, so daß er nicht ausweichen konnte.
,Was will der von mir?‘ dachte Karl B. Die Angst kroch ihm abermals den Kragen hoch, und er spürte die plötzliche Unfähigkeit, sich überhaupt irgendwie verhalten zu können.
Der Pförtner stand vor ihm, blickte ihm ernst schweigend ins Gesicht, drückte ihm dann nachhaltig und mit Mitgefühl die Hand und trat endlich beiseite, so daß Karl B. passieren konnte, er schluckte und passierte willenlos.
Die plötzliche Erkenntnis aber, daß er nun im Betrieb war, traf ihn wie ein Schlag und nahm ihm augenblicklich die letzte Hoffnung. Jetzt gab es kein Zurück mehr! Denn die Kollegen wußten es bestimmt auch schon, hier wird ja immer viel geredet.

Für einen Moment erwog er die Möglichkeit umzukehren - aber nein, das war ganz unmöglich! Er hatte immer seine Pflicht getan, war nie zu spät gekommen oder gar krank gewesen ...
Voller schwerer Vorahnungen stieg er die Stufen nach oben, drei ganze Stockwerke, stand nun vor der Tür seines Büros, drückte langsam die Klinke herunter, das Kratzen von Feder auf Papier hinter der Tür verstummte.
‚Natürlich wußten sie es‘, dachte er und trat ein. Er grüßte verkrampft. Die anderen erwiderten den Gruß ganz normal, zu normal, es schwebte etwas in der Luft.
Er hängte seinen Mantel an den zweiten Haken von links, war gerade unterwegs zu seinem Schreibtisch, da riß der Aufhänger und der Mantel fiel zu Boden. Er erstarrte, fragte sich, welche Katastrophen sich wohl noch ereignen würden, schluckte schwer und entschloß sich dann, doch nichts zu unternehmen und weiterzugehen, als ob nichts geschehen war.
Als er sich an seinem Schreibtisch niederließ, stellte er fest, daß er zu allem Unglück noch seine Aktentasche vergessen hatte. Die anderen hatten es bestimmt auch schon gemerkt. Der Schweiß lief ihm inzwischen in abwechselnd heißen und kalten Wellen über den ganzen Körper. Vorsichtig schielte er zu ihnen hinüber. Tatsächlich, da standen sie alle zusammen und flüsterten miteinander, und jetzt blickte man zu ihm her. Als wäre er bei etwas verbotenem ertappt worden, zuckten seine Augen zurück auf die Schreibtischplatte. Aber - es waren ja gar keine Akten da! Jetzt hatte er die Gewißheit: sie wußten alles! Verlegen und verbissen schwitzend zählte er die Bleistifte durch. Es war einer zuviel! Er zählte nochmals nach, wirklich einer zuviel! Er war erschüttert.
Unfaßbar! Dinge waren hier im Gange, die sein Verstand nicht mehr zu bewältigen in der Lage war.
Jetzt, wo sein Schicksal festlag, war ihm alles egal, er lockerte den Schlipsknoten, versuchte, Atem zu holen.
Nun kam einer der Kollegen herüber. Es war aus.
„Ahem ..., Herr B. Wir ... möchten ihnen nur unser tiefes Mitgefühl ausdrücken ...“
Die anderen nickten beipflichtend.
„D-danke“, stammelte er völlig verstört und bekam keine Luft mehr.
Und jetzt stand zu allem Unglück noch der Chef vor ihm. Karl B. war außerstande, sich zu erheben, er ließ sich von seinem Chef die Hand schütteln, sank nun gänzlich auf seinem Stuhl zusammen und hörte, während sich sein Denkzentrum endgültig ausschaltete, nur noch von weiter Ferne eine Stimme:
„Sie verzeihen vielleicht, daß ich jetzt auf Finanzielles zu sprechen komme, aber da sie uns seit jeher immer ein treuer und zuverlässiger Mitarbeiter waren, so halten wir es nur für selbstverständlich, daß die Firma für die Bestattungskosten aufkommt ...“
Dann wurde es dunkel.

In seiner kleinen Mansardenwohnung erwachte Karl B. aus tiefer Ohnmacht. Es hatte an der Tür geklingelt.
Wer das wohl sein konnte?
Er öffnete, und ein Herr in schwarzem Anzug stand vor ihm.
„Ich komme vom Beerdigungsinstitut Friedemann und Söhne, mein allerherzlichstes Beileid. Ihr Chef hat mich geschickt.“
Da fiel Karl B. alles wieder ein, und die Wucht der Erinnerung schmetterte ihn zu Boden. Der Mann stand schon über ihm und hatte einen Zollstock ausgeklappt.
„Darf ich Maß nehmen?“ fragte er höflich und sah Karl B. erwartungsvoll an.
Dieser zitterte am ganzen Leibe, sprang auf, schrie verzweifelt: „Nein! Ich will nicht mehr! Laßt mich doch in Ruhe!“ und stürtzte Hals über Kopf aus seiner Wohnung.




3. Kapitel


Seit drei Tagen und Nächten war Karl B. auf der Flucht vor seinen Mitmenschen in finsteren Seitengassen herumgegeistert, hatte sich ständig vor Passanten in Hauseingänge verdrückt, unter Brücken geschlafen und sich aus Mülltonnen ernährt.
Jetzt schlich er schon seit einer Stunde um die Polizeiwache; er hatte sich noch nicht entschließen können, den letzten, entscheidenden Schritt, der getan werden mußte, zu tun. Noch während er innerlich mit sich rang, sich zu stellen, damit alles endlich vorbei und vorüber war, spürte er eine Hand auf der Schulter. Er drehte sich um - es war die Hand des Gesetzes.
Der Polizist musterte die zitternde, zerlumpte, verdreckte und unrasierte Erscheinung dem schiefen Schlips von Kopf bis Fuß.
„Na, Bürschchen, was treibst du dich denn hier rum? Komm mal mit.“
Er faßte Karl B. hart am Arm und führte ihn auf die Wache.
Hier saß hinter einer Schreibmaschine ein anderer Polizist, der fragte:

„Name?“
Karl B. schluckte, er hatte noch nie etwas mit der Polizei zu tun gehabt.
„B.“
„Gut.“ Der Polizist tippte.
„Vorname?“
Kalter Schweiß brach Karl B. aus.
„Karl.“
„Aha!“ Der Polizist tippte wieder.
„Beruf?“
„Buchhalter.“
Der Polizist stockte, warf einen Blick auf die abgerissene Gestalt.
„Soso, also Buchhalter ...!“ Unverhohlener Argwohn.
Er wollte gerade wieder zu tippen beginnen, da platzte es aus Karl B. heraus:
„Ich gestehe allesl! Ich gestehe alles! Alles!“
Der andere Polizist mußte ihn festhalten.
„Was gestehst du?“
„Ich habe einen umgebracht.“
„Wen?“
„Den da!“ Er zeigte auf das Blatt in der Schreibmaschine.
„Wen?“
„Den da: Karl B.! Er ist tot!“
„Das klingt schon bedeutend glaubwürdiger.“
Man mußte Karl B. aber ersteinmal fortschaffen, denn er war wieder in Ohnmacht gefallen.

Nachdem er wieder zu sich gekommen war, begannen die Verhöre. Er mußte das Geständnis vor dem Polizeikommissar wiederholen, vor dem Untersuchungsrichter und weiteren zuständigen Behörden, mußte den Tathergang schildern und immer wieder versuchen, sich an kleinste Einzelheiten zu erinnern, was ihm oft unmöglich war, und unzählige Protokolle unterzeichnen.
Er hatte auch einige Interviews für Presse und Rundfunk zu geben. Die Öffentlichkeit zeigte von Anfang an große Teilnahme an seinem Fall. Und er hatte, nicht zuletzt, viele lange Besprechungen mit seinem Anwalt.
Endlich waren die Ermitlungen abgeschlossen und Karl B. wurde zur Verhandlung vor den Richter geführt.
Der Gerichtssaal war überfüllt. Das Fernsehen war anwesend. Und es herrschte eine bis zum Zerreißen gespannte Atmosphäre wie bei einem Weltmeisterschaftsendspiel.
Zum hunderttausendsten, und wie er hoffte, zum allerletzten Male wurden seine Personalien festgestellt. Das Verfahren war eröffnet.
„Angeklagter, wie die Untersuchungen ergaben, sind Sie geständig, einen einen gewissen ...“, der Richter wühlte in seinem Aktenberg, „... einen gewissen Karl B., von Beruf Buchhalter ermordet zu haben.“
„Ja, Herr Richter.“
„Einspruch!“ rief der Staatsanwalt.
Der Richter winkte lapidar ab.
Der Rechtsanwalt hinter Karl B., flüsterte:
„Sehen Sie, der Richter ist auf Ihrer Seite, Sie haben den Prozeß schon so gut wie gewonnen.“

Karl B. faßte Mut.
Der Richter fuhr fort:
„Angeklagter, ihr Geständnis liegt vor, es ist alles korrekt, so korrekt, wie es nur ein Buchhalter, wie sie es sind ...“
„Einspruch!“ unterbrach der Rechtsanwalt.
„Warum Einspruch?“ fragte der Richter überrascht.
„Mein Mandant“, sagte der Rechtsanwalt triumphierend, „war Buchhalter gewesen, er ist es aber heute nicht mehr.“
„Pardon“, sagte der Richter und fuhr fort:
„Trotz der Genauigkeit des Geständnisses also, sehe ich hier noch einige Unklarheiten. Zum Beispiel, wann, Angeklagter, haben sie den B. ermordet?“
„Es ist schon zu lange her, Euer Ehren“, sagte der Rechtsanwalt, „man kann das Todesdatum des Opfers heute noch nicht einmal mehr auf das Jahr genau bestimmen.“
„Ist das richtig, Angeklagter?“
„Ja, Herr Richter.“
„Einspruch“, rief der Staatsanwalt aufspringend.
„Einspruch abgelehnt“, entgegnete der Richter überdrüssig. Grollend setzte sich der Staatsanwalt wieder.
„Genauso unklar“, fuhr der Richter fort, „verhält es sich mit der Tatwaffe, auch über sie geht nichts aus den Ermittlungen hervor.“
„Der Grund hierfür ist ebenfalls in der zu großen Zeitspanne zurück zum Tage der Tat zu suchen“, sagte der Rechtsanwalt. „Mein Mandant konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern.“
„Ist das richtig, Angeklagter?“
„Ja, Herr Richter.“
„Einspruch, Euer Ehren!“ rief der Staatsanwalt wieder.
„Warum denn dauernd Einspruch, Herr Staatsanwalt?“ fragte der Richter verdrossen.
Der Staatsanwalt erhob sich und rief mit hochrotem Kopf:
„Euer Ehren, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß der Angeklagte sie ständig mit ‚Herr Richter‘ anredet und nicht, wie es ausdrücklich vorgeschrieben ist, mit ‚Euer Ehren‘.“ Der Staatsanwalt setzte sich wieder, mit siegessicherem, grimmigen Lächeln.
Doch der Richter sagte nur:
„Einspruch unter Vorbehalt stattgegeben. Damit ist die Beweisaufnahme abgeschlossen. Darf ich nun um die Plädoyers bitten.“
Der Staatsanwalt erhob sich gewichtig, stellte sich in Pose und hub an:
„Euer Ehren, verehrte Damen und Herren hier im Saal und auch draußen an den Radios und Fernsehgeräten, in Anbetracht der Tatsache; daß das Protokoll und die Beweislage unvollständig, um nicht zu sagen äußerst unbefriedigend sind und für eine angemessene Würdigung des Falles absolut nicht ausreichend, bezweifle ich den Wahrheitsgehalt des Geständnisses des Angeklagten. Und zwar jeden Wahrheitsgehalt insgesamt. Die Frage hierbei, ob der Angeklagte uns bewußt belügt, oder ob es sich nur um einen Defekt seines Hirnes handelt, ist für unser Dagegenhalten völlig unwichtig. Tatsache ist, daß er nichts weiß, oder vorgibt, nichts zu wissen, und daß wir ebenfalls nichts Genaues wissen. Wo, Euer Ehren, sehr verehrtes Publikum, kämen wir denn hin, wenn wir uns auf verschlungene Schlußfolgerungen und unseren bloßen menschlichen Verstand verlassen würden? Das frage ich Sie. Wo kämen wir da hin? Dann können wir ja gleich die Würfel werfen! Daß der Angeklagte ein skrupelloser und gemeiner Verbrecher ist, nämlich ein Lügner und Betrüger, ein Schädling der menschlichen Gemeinschaft, bezweifelt ja niemand. Aber unter so rätselhaften Bedingungen einen Mord anzunehmen und den Angeklagten zu verurteilen und einem Schicksal auszusetzen, das ihm nicht gebührt, wäre verantwortungslos. Und überhaupt: Wer war denn der ermordete Karl B.? Die Nachforschungen über Person und Leben des angeblichen Opfers waren, abgesehen von den amtlichen Personalien, völlig ergebnislos. Ich frage, ob dieser Karl B. jemals existiert hat! Und ob er somit überhaupt abhanden kommen konnte! Und dieses, Hohes Gericht, liebe Anwesenden, sollte auch unser Anliegen sein: nämlich die Tatsachen als solche bestehen zu lassen und nicht irgendwelchen phantastischen Mutmaßungen nachzuhängen oder gar unheimliche Geister zu beschwören und ins Leben zu rufen.“
Der Staatsanwalt machte eine genau berechnete Kunstpause, ließ seine Worte auf das Publikum und den Richter einwirken und rief dann, das Strafprozeßbuch über seinem Haupt schüttelnd, in die Runde:
„Ich stelle hiermit fest, daß der Beweis noch lange nicht erbracht ist, der Angeklagte hätte den Mord begangen, und daß dieser Beweis wahrscheinlich auch nie erbracht werden kann. Wenn es überhaupt ein Mord war. Die Anklage plädiert daher auf Freispruch, auf daß der Angeklagte wie bisher weiter in seinem Beruf als Buchhalter arbeiten soll und nicht weiter auffällig ist.“
Der Staatsanwalt setzte sich.
Schweigen im Saal, eine unsichtbare geschlossene Front frostigster Ablehnung. Jetzt einige Piffe und Buhrufe, und nun allgemeines Grummeln und Rumoren, das langsam anschwoll ...
Der Richter klopfte mit dem Hammer auf den Tisch und erteilte der Verteidigung das Wort. Im Saal wurde es wieder still.
Der Rechtsanwalt begann nun zu sprechen:
„Hohes Gericht, liebe Freunde, die Unterstellung des Staatsanwaltes, der Angeklagte sei ein Simulant, denn nichts anderes hat er mit seinen Ausführungen gesagt, ist schlichtweg infam. Eine Anmaßung sondergleichen. Ich bezweifle ob jener vermeintliche Vertreter des öffentlichen Interesses überhaupt in der Lage ist, diesen Fall in all seinen besonderen Eigenheiten ausreichend zu beurteilen - hat er uns doch mehrfach in aller Deutlichkeit demonstriert, daß er selbst kaum mehr als nur ein kleiner Buchhalter ist, dessen Horizont mit der Schreibtischkante aufhört. Im vorliegenden Fall, Herr Kollege“, wendete er sich in einem belehrendem Ton an den Staatsanwalt, der vor Wut feuerrot angelaufen war und aussah, als ob er gleich platzen würde, was wiederum offenbar nur durch den strengen Blick des Richters verhindert wurde, „im vorliegenden Fall ist der Zeitpunkt der Tat oder die Tatwaffe zur Beweisführung nur von drittrangiger Bedeutung. Die Tat meines Mandanten, und vor allem ihre Schwere, ist vielmehr gekennzeichnet durch die Art, wie sie begangen wurde, eben die abgrundtiefe Un-Menschlichkeit. Dieser Tatbestand ist eindeutig bewiesen: nämlich völliges Nicht-Sein. Das Opfer hatte von vornherein keine Chance. Und genau auf diese Weise, Herr Kollege, liebe Freunde, Euer Ehren, hat mein Mandant, der Angeklagte, ein niederträchtiges Unrecht begangen und einem Menschen das Schlimmste angetan, das ein Mensch einem anderen antun kann, nämlich seine Existenz auszulöschen, was selbstverständlich gebüßt werden will und muß.
Hohes Gericht, mein Mandant ist zweifelsfrei der Mörder. Seine Tat verlangt die allerstrengsten Konsequenzen, und dies nicht zuletzt, um die Verfehlungen seines bisherigen Lebens nach besten Möglichkeiten wieder gut zu machen. Natürlich auch um der Genugtuung seines Opfers willen. Sein ausführliches Geständnis liegt vor. Was wollen wir mehr? Die Verteidigung plädiert daher auf schuldig.“
Aus dem Publikum erhob sich ein Beifallssturm wie ihn die Rechtsgeschichte des zivilisierten Abendlandes noch nie gesehen hatte. Der Anwalt setzte sich mit stolz geschwellter Brust, und Karl B. lächelte ihm dankbar zu.
Jetzt wendete sich der Richter an Karl B.:
„Zum Abschluß sei dem Angeklagten das letzte Wort erteilt, falls Sie noch etwas hinzufügen wollen, mein Herr.“
Karl B. lehnte sich entspannt auf seinem Sitz zurück und meinte nur:
„Herr Richter, und ihr alle, ich stehe nach wie vor voll zu meiner Schuld, und ich bitte um die Höchststrafe.“
Im Saal herrschte absolutes Schweigen. Das Gericht zog sich zur Beratung zurück, und die Spannung wuchs bis zum schier Unerträglichen. Wie würde die Entscheidung lauten? Würde man einem Mörder glauben? Oder doch eher dem unbescholtenen Staatsanwalt? Alles war möglich. Jeder fieberte mit dem Angeklagten. Und jeder fühlte mit dem Opfer.

Schließlich betraten der Richter und die Geschworenen wieder den Saal, und das Urteil wurde verkündet:
„Der Angeklagte Karl B. wird für schuldig befunden, die Tötung eines Menschen begangen zu haben, und wird deshalb zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Die Strafe ist sofort anzutreten. Die Verhandlung ist geschlossen.“
Vor Freude weinend verließ Karl B., gefolgt von seinem Anwalt, einer Horde von Reportern und Scharen von jubelnden Fans das Gerichtsgebäude und trat ins Sonnenlicht.








Der Dämon


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Heute will ich ‘mal über den Dämon erzählen, von welchem niemand weiß.

Es ist jenes Urwesen aus der zweiten Schöpfung, welches direkt die Hirne der denkenden Kreaturen beeinflußt, zwar aller denkenden Wesen, aber doch die einen mehr und die anderen weniger, wie wir sehen werden.
Jenes Geschöpf, genannt: der Geist, ist also für die höheren Sphären gewissermaßen zuständig, wenn nicht gar ihr Schöpfer (das ist noch unklar). Ja, er selbst dient überhaupt als Prototyp für alles, was heute im Zeitalter des Durchblickismus präzise als Kobolde, Meerjungfrauen, Zwerge, Feen, Klabautermänner und sonstige Gespenster bezeichnet wird. Jeder Geist aber ist dieser Geist, der Geist schlechthin; denn letztlich gibt es nur einen einzigen Geist. Und das will ich nun näher ausführen.
Der Geist ist ein ganz und gar seltsames Wesen, in seiner Größe völlig unbestimmt, manchmal ist er kleiner als eine Staubkorn, aber er kann sich auch bis auf Mondgröße aufblähen, manche munkeln, sogar noch größer.
Er besteht aus einer Substanz, die bei der ersten Schöpfung damals übrigblieb, weil niemand wußte, wozu sie zu gebrauchen sein sollte, weder dick, noch dünn, weder fest, noch flüssig, weder kalt, noch warm - nur unsichtbar, unfaßbar und geruchslos.
Aus irgendeiner bisher noch nicht entdeckten Ursache hatte es eines Tages begonnen, sich zu regen und lebendig zu werden. Da bei der Geburt des Geistes keiner dabei war, wird der Grund seiner Existenz wohl auch weiter erst einmal ein Rätsel bleiben. Selbst der große Ober-Hoch-Ganz behauptet manchmal, nicht zu wissen, was es mit dem Geist auf sich habe. Und der ist schließlich einer der Ältesten.
Nun, da man im Universum gewöhnt war, alles zum Besten aller zu lösen, wies man dem Geist einen Bereich an, der bisher brachlag, weil keiner der kosmischen Bürger in jener Einöde, die dort herrschte, leben wollte.
Hier also richtete er sich häuslich ein, und mit etwas Phantasie wurde es von Tag zu Tag immer gemütlicher.
Auch gab es für ihn bald viel zu tun; der Geist hatte nämlich begonnen, Gedanken anzufertigen und diese auf dem intergalaktischen Bazar feilzubieten. Er ahnte damals nicht, daß er damit eine große Mode schaffen, ja - ein neues Zeitalter auslösen sollte, denn die Nachfrage nach Gedanken jeder Art wuchs so rasant, daß der Geist schon nach kurzer Zeit nicht mehr in der Lage war, alleine alle Aufträge pünktlich und gewissenhaft zu erledigen. So stellte er sich dafür Helfer und Boten her; und derer war eine so große Anzahl von Nöten, daß er sogar Helfer zum Bauen der Helfer bauen mußte. Je nach Dienstalter heißen sie: Gott, Cherubim, Seraphim usw. bis zu den modernen Marsmenschen und Ufo-Piloten. Sie alle produzieren und verteilen sämtliche Gedanken, die es gibt.
Es dauerte nicht lange, und die Gedanken-Industrie wurde zum wichtigsten Wirtschaftszweig im bekannten Teil des Universums, und der Geist, als Chef des kosmischen Konzerns, wurde das mächtigste Wesen der dritten Schöpfung.
Allerdings gab es einige Gedanken, deren Herstellung und Verbreitung nicht von allen Beteiligten gebilligt wurde, weil deren Nutzen doch zu dubios war und so mußte unser Heiliger Geist, wie er sich inzwischen selbst nannte, nachdem er seine Einmaligkeit und seine darausfolgende unermeßliche Wichtigkeit erkannt hatte, ja, mußte doch das eine oder andere seiner Meisterwerke wieder aus der Welt fortschaffen, vor allem auf Betreiben gewisser älterer kosmischer Mitbürger, aber - sparen wir uns diese Kleinlichkeiten.
Nur einen einzigen Gedanken beseitigte der Geist von sich aus wieder; das war die Gewißheit über ihn selbst und seine Erhabenheit über alle anderen Wesen des Kosmos.
Das hatte sich folgendermaßen zugetragen:
In grauer Vorzeit einmal hatte ein Philosoph namens Permieson herausgefunden, daß die Gedanken, welche vom Heiligen Geist selbst kamen, qualitativ erheblich besser waren, als die seiner Angestellten und Untergebenen.
Natürlich war dies auch nur ein Gedanke, und zwar einer seiner besten, wie der Heilige Geist meinte, den Permieson da erhalten hatte. (Andere behaupten jedoch, Permieson hätte diesen Gedanken nicht erhalten, sondern zufällig in der Wüste gefunden. Es sei nämlich einer der berüchtigten „verlorenen Gedanken“ des Heiligen Geistes, an sich nur etwas Verschnitt aus der Werkstatt, ein kleiner Produktionsrest, von dem nicht klar ist, wie er überhaupt in jene Wüste geraten konnte.)
Wie dem auch sei, jedenfalls zog Permieson bald als berühmter Prophet durch die Lande und scharte gewaltige Menschenmassen um sich, und er verkündete die aller-allerhöchste Offenbarung bester Qualität, mit welcher er beinahe die Weltordnung umstürzte; denn alle wollten ab jetzt nur noch erstklassige Gedanken vom Heiligen Geist direkt haben, und zwar gute und schlechte Gedanken in einem solchen Ausmaß und in so hoher Qualität - besonders gefragt waren sogenannte heilige Bücher -, daß er bald so sehr in Lieferverzug kam und sich trotz aller Helfer und Mitarbeiter bis zur Erschöpfung verausgabte und schließlich ernsthaft erkrankte, so daß er eines Tages selbst und mit ihm der Betrieb im Geistreich und zum Schluß der ganze Kosmos zusammenbrach.
Es begann nun eine Zeit der Gedankenlosigkeit und der Geistesarmut bis hin zur völligen Verblödung; purer Unsinn regierte jetzt die Welt. ( Der Ehrlichkeit halber sei gesagt, daß es einige Wesen gab, die diesen Zustand gar nicht so schlecht fanden. ) Also beschloß man, den Geist wieder zu heilen.
Unter der Leitung des Ourobouros pflegte man ihn gesund, bis er wieder genauso leistungsstark war wie früher. Den ersten Gedanken, den er nun hatte, war, daß er selber sich in die Anonymität zurückziehen mußte, wenn das Unglück sich nicht wiederholen sollte. Also setzte er den Gedanken in die Welt, daß Permieson ein Verräter war, der beinahe den Untergang des Kosmos herbeigeführt hätte, so daß dieser dafür von seinen Brüdern und Schwestern fürchterlich zur Rechenschaft gezogen wurde.
Sie begannen damit, ihn zu beleidigen und zu bespucken, dann folterten, räderten und steinigten sie ihn und schlugen ihm Haupt und Hände und Füße ab, vierteilten ihn, ersäuften und verbrannten ihn und streuten seine Asche zu guter Letzt auf dem weiten Ozean in den Wind. Gleichzeitig vernichtete man alle seine Schriften; und seinen Namen zu nennen, wurde mit der Todesstrafe geahndet.
- So herrschte bald wieder Ruhe, und alles nahm seinen alten, bewährten Gang.
Endlich wurde der Geist nicht mehr verehrt; die Leute hielten ihn fortan nur noch für eine Legende wie den Heinzelwicht oder den Holzschratt oder den lieben Gott; dies reichte völlig aus, um eine gleichmäßige Nachfrage an durchschnittlich guten Gedanken zu sichern.
Nur ganz selten behauptet noch jemand, eine Offenbarung des Heiligen Geistes gehabt zu haben; doch auch hier bewährt sich immer noch das alte Rezept von damals.
Und so läuft es auch heute noch:
Irgendwo im Verborgenen werden unzählige Gedanken angefertigt und verteilt. Und der Geist herrscht unerkannt über die Welt und alle intelligenten Wesen. Ja, lieber Leser, auch über dich; denn auch du stehst ständig unter dem mehr oder weniger direkten Einfluß des Geistes.

„Wie bitte?“ wirst du staunen, ungläubig, wie dich der Geist inzwischen gemacht hat.
„Doch!“ versichere ich dir. „Vielleicht schwebt gerade jetzt ein unsichtbares Ufo neben deinem Kopf und ein astrales Wesen (vielleicht ein kleines, rotes Weibchen von der Venus) flüstert dir unhörbar diese ganze Geschichte ins Ohr, während du verdutzt auf diese weißen Blätter starrst, die ganz mit unsinnigen Kritzeln bedeckt sind, und glaubst, diese Geschichte darin zu lesen.
„Eine seltsame Geschichte“, denkst du nun, „der Autor spinnt ja.“ Und du bist versucht, die ganze Geschichte zu verwerfen.
Jedoch - es ist bereits geschehen; du hast diese Offenbarung aufgenommen, und jetzt sitzt sie in deinem Hirn und gärt dort. Und du fragst dich: Was soll das? Steckt hier der Geist dahinter? Und - hat er das genauso gewollt? Bin ich auserwählt?
- Erinnerst du dich, wie schwer es ist bestimmte Gedanken wieder loszuwerden? Und was man mit gewissen lästigen Leuten zu tun pflegt?
Am besten, man sollte gar keine Bücher lesen, niemandem zuhören und überhaupt gar nicht erst die Augen öffnen!
Nie geboren werden!
Aber - zu spät!!!






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