VERSCHWÖRUNGEN


THEORIE UND PRAXIS

Einleitung



- sämtliche Rechte bei station23 -

Verschwörungen?
"Nun, kann schon sein. Warum nicht?"
"So'n Quatsch!"
"Ja, vielleicht. Manchmal."
"Aber natürlich! Das ist die Grundlage des Geschäfts!"
"Ach, weißt du, das interessiert mich eigentlich alles nicht." (Herzlichen Glückwunsch zu dieser Geisteshaltung!)

Was ist eigentlich eine Verschwörung?


1. Fall:

In einem dunklen Hinterzimmer hocken einige finstere Gestalten beieinander und beratschlagen flüsternd irgendetwas. Etwas Geheimes. Etwas Gefährliches. Der Name einer hochgestellten Persönlichkeit fällt, der Nebenmann stößt dem Sprecher den Ellbogen in die Seite und bedeutet ihm zu schweigen, während er sich zur verschlossenen Tür umblickt. Auf dem Tisch liegt eine Karte ausgebreitet, auf der einige Punkte markiert sind.

So ungefähr stellt sich Klein-Fritzchen eine Verwörung vor. Und Groß-Fritzchen und Konsorten sowieso.
Die Herrscher sind nämlich seit ewigen Zeiten die größten Verschwörungstheoretiker. Und mit gutem Grund. Ist es doch genau das, was sie am meisten fürchten: abserviert zu werden. Und das kann jeden Moment sein. Und überall. Sogar beim kacken. Sprichwörtlich abkacken. Und auch ihre Furcht wiederum ist gut begründet, denn meistens sind sie selbst mit mehr oder weniger miesen, hinterhältigen Tricks an die Macht gelangt, vielleicht sogar auf genau dieselbe obige Weise.
Die Herrscher sind - und zwar seit Urzeiten - nicht nur die größten Verschwörer, sondern auch die größten Verschwörungsparanoiker, und deshalb benötigt jeder ordentliche Herrscher diverse "Sicherheits-" und "Ordnungs"-Kräfte, die dafür sorgen, daß ihm nichts passiert, angefangen von der Leibwache, über Polizei und Geheimdienste bis zum Militär, welches nicht unbedingt nur für die Landesverteidigung da ist (oder einen Eroberungskrieg), sondern auch schon mal gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt wird. All diese Institutionen dienen nicht nur zur Überwachung und Kontrolle der Untertanen, sondern auch zu ihrer Einschüchterung und Maßriegelung. Die Tatsache, daß dem Bürger vorgegaukelt wird, diese Apparate der Macht wären nur zu seinem eigenen Schutz da, ist ihrerseits wieder eine gewaltige Verschwörung, eingebettet in eine riesige Hirnwäsche-Kampagne durch Kirche, Schule, Bürokratie, Medien und heute besonders die Werbung. Es handelt sich hierbei um die ganz alltägliche Verschwörung der Herrschenden, die zur Grundlage ihres Geschäftes gehört.
Diese Instrumente der Herrschenden haben jedoch aufgrund ihrer subversiven Tätigkeit die Eigenschaft, selbst Macht anzusammeln und sich zu verselbstständigen, sich der Kontrolle der Herrscher zu entziehen und ihr eigenes Süppchen zu kochen. Die berühmteste Verschwörungs-Vereinigung diesbezüglich ist die CIA, die inzwischen über die USA, immerhin den mächtigsten Staat der Welt, regiert (bzw. genauer: die das derzeit mächtigste Herrschaftsinstrument der wirklichen Chefs ist) - was nichts anderes besagt, als daß die Regierung und die Parlamente der USA entmachtet wurden und diese nur noch Erfüllungsgehilfen einer Geheimgesellschaft, nämlich der CIA, sind, von der niemand weiß, was dort eigentlich betrieben wird (von der Geheimgesellschaft der wirklich Herrschenden im Hintergrund ganz zu schweigen). Diese klassische Verschwörung der Herrscher bzw. ihrer mutierten Machtapparate wird in der offiziell herrschenden Ideologie allerdings nicht als Verschwörung angesehen und in der offiziellen Herrschaftssprache auch nirgends als solche bezeichnet, sondern als selbstverständliche, durchaus übliche politische Gepflogenheit verstanden, als völlig normale politische Praxis, gelegentlich vielleicht etwas kraß, wie z.B. die Ermordung von Politikern auf offener Straße, aber an sich nichts ungewöhnliches. Welcher Herrscher möchte auch schon als Verschwörer gelten bzw. im Ruch stehen, sich mit Verschwörern zu umgeben? Dennoch handelt es sich hierbei um die typischste aller Verschwörungen.
Üblicherweise bleibt bei den Herrschafts- und Regierungs-Verschwörungen und ihren Unterverschwörungen, den Palast-Verschwörungen, Militärputschen etc., das Volk vollständig außen vor und versteht oft noch nicht einmal im Ansatz, um was es geht, wie z.B. bei der Ermordung des schwedischen Ministerpräsidenten Palme, falls sie denn überhaupt irgendeine Veränderung nach der Machtübernahme bemerken. Hier geht es nur noch um den bloßen Existenzkampf der Mächtigen, wo nicht abgewählt oder abgesetzt wird, sondern vernichtet, beseitigt und erledigt, egal ob es sich um alte Feinde handelt oder neue, um Gegner oder einstige Gefährten, oder gute Geschäftspartner. Hier explodieren die Bomben, es wird scharf geschossen, vergiftet und gemordet, was das Zeug hält. (Und hinterher irgendwelchen kleinen "Terrorbanden", die man womöglich noch selbst aufgebaut hat, in die Schuhe geschoben.)
Wir konstatieren also: Die Herrscher selber sind nicht nur die größten Verschwörungstheoretiker, sondern zu allererst auch die Erfinder der organisierten Verschwörung und des mit ihr verbundenen Terrors. Die Herrscher unterscheiden sich somit von den sogenannten Terroristen lediglich dadurch, daß sie an der Macht sind, und daß sie so jenen als Vorbild dienen bzw. diese sie nur imitieren.

Somit kommen wir zur üblichsten, will sagen: meistpraktizierten aller Verschwörung:

2.Fall:

Im 23. Stockwerk eines Behördenhochhauses befindet sich das Büro des Geheimdienstes XYZ. Man trifft sich zur täglichen Routine-Sitzung. Nach deren Ende bleiben fünf Beamte im Büro. Sie sprechen von einem Einsatz. Einem verdeckten Einsatz. Der Vorgesetzte verteilt an drei der Anwesenden gefälschte Pässe eines befreundeten Staates. Einer von ihnen erhält ein kleines, schweres Päckchen, welches er dem Diplomaten A persönlich überreichen soll, der es in den befreundeten Staat bringen wird. - Kurz: man beginnt gerade mit der Beseitigung einer unerwünschten Person von der internationalen Bühne.

Auch dieses Vorgehen ist nichts anderes als eine Verschwörung, obwohl es nicht so bezeichnet wird. Handelt es sich doch bloß um den ganz normalen Betrieb innerhalb eines Geheimdienstes. Dafür (nämlich zur Sicherung der bestehenden Herrschaft, möglicherweise auch zu deren Ausweitung) sind die Geheimdienste schließlich geschaffen worden, und deshalb ist das natürlich überhaupt kein Grund, von einer Verschwörung zu sprechen. Denn merke: eine Verschwörung ist immer subversiv. Die Verschwörungen der Geheimdienste aber, die ihrerseits nur Teil- bzw. Sub-Verschwörungen der umfassenderen Herrschaftsverschwörung sind, dienen der Stabilität der Macht, und nicht nicht ihrer Untergrabung (meistens jedenfalls). - Irrtum! Auch hier geht es um nichts anderes als um hinterlistige Gewaltanwendung und um Macht, wenn auch weniger um die eigene, als um die Macht ihrer Auftrag- und Geldgeber. Insofern unterscheiden sich die Geheimdienste nicht von mafiösen Vereinigungen und auch nicht von religiös-fundamentalistischen Terrorbanden, egal welche Couleur.

Dieser Fall unterscheidet sich vom Ergebnis her betrachtet nicht von dem folgenden:

3. Fall:

Herr A ist fanatischer Anhänger einer kleinen, aber radikalen politischen Partei. Wie es der Zufall will, wird der Minister B, den A aus tiestem Herzen haßt, auf seiner Wahlkampf-Tour in A's Kleinstadt eine Rede halten. Das ist die Gelegenheit für A, es B endlich einmal heimzuzahlen. Er geht in seinen Keller und fängt an, etwas zu basteln.

Auch diese Tat wird nicht als Verschwörung bezeichnet, obwohl sie sich vom 1. und vom 2. Fall nur in einem einzigen Punkt unterscheidet: A ist ein Einzeltäter, er kann sich deshalb gar nicht verschwören. Zum Verschören gehören nämlich mindestens zwei. Unser Begriff von Verschwörung reicht offensichtlich nicht aus, um das gesamte Phänomen zu erfassen. Was macht man hier? Brauchen wir einen neuen Begriff? Oder sollten wir unser Sprachverständnis dahingehend revidieren, daß man sich doch mit sich selbst verschwören kann, inklusive Schweigegelübte selbstverständlich? Wir meinen, es kommt nicht auf eine formale Definition der Verschwörung an, sondern auf eine funktionale. Das konstituierende Moment der Subversion reicht aus. Deshalb sehen wir kein Problem darin, die hinterhältige Attacke eines Einzeltäters zu den Verschwörungen zu zählen. Ansonsten überlassen wir die akademische Lösung dieser Frage hiermit anderen Verschwörungsforschern. (Als erstes empfehlen wir hier die amtliche Feststellung, daß unsere gängige Definition einer Verschwörung selbst das Produkt einer Verschwörung ist, nämlich der Herrschaftsverschwörung und der von ihr iniziierten allgemeinen Hirnwäsche der Bevölkerung.)

4. Fall:

Der Geheimdienst des Staates A bekommt einen Tip, daß eine bestimmte Untergrundorganisation einen Anschlag auf eine Einrichtung des Staates B plant, und gibt diese Information an den Geheimdienst des Staates B weiter. Da der Anschlag sich aber innenpolitisch gut verwenden läßt, gibt der Geheimdienst des Staates B die Information nicht an die eigene Polizei weiter. Der Anschlag findet wie geplant statt und dient in der Folge als Rechtfertigung für Einführung ganz bestimmter innen- und außenpolitischer Vorhaben, die ohne den Anschlag zuvor nicht durchsetzbar gewesen waren.

Obwohl der Geheimdienst des Staates B gar nichts getan hat, hat er sich ganz typisch verschwörerisch verhalten. Hier haben wir es mit einer Verschwörung durch Unterlassen zu tun, ganz entsprechend dem Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung. Wie fließend (und definitiv fiktiv!) die Grenze vom Nichts-Tun über die Anstiftung bis zur aktiven Tat ist, wird in folgender Variante deutlich:

5. Fall:

Der Geheimdienst eines Landes beschließt, einen etwas größeren Anschlag einschließlich ziviler Opfer im eigenen Land durchzuführen (weil seine Geldgeber und Hintermänner aus der Wirtschaft die Herbeiführung eines bestimmten politischen Klimas und daraus begründete Gesetzesänderungen wünschen), dazu unterwandert er eine ausländische feindliche Terror-Gruppe. Diese führt den Anschlag aus und wird anschließend von dem Geheimdienst zerschlagen (während gleichzeitig das Militär das Heimatland der Terroristen bombardiert).

Diese Version ist die perfideste aller Verschwörungen: Der Verursacher des Übels tritt als sein Beseitiger und als Retter in der Not auf. Hierbei ist schnell die Grenze von der Sabotage zum Krieg (hier auch gegen die eigene Bevölkerung) überschritten. In jedem Fall aber ist diese Form der Verschwörung mit einer großangelegten Hirnwäsche der Bevölkerung verbunden (bei der besonders die sogenannten Verschwörungstheorien verpönt oder sogar tabuisiert sind bzw. deren Verfechter psychiatrisiert werden).

Eine Verschwörung könnte aber auch noch ganz anders aussehen und würde trotzdem - unter dem funktionalen Gesichtspunkt - alle Kriterien erfüllen. Es muß sich nämlich nicht immer um den Thron oder den größten Harem drehen. Und es braucht auch überhaupt kein Tropfen Blut zu fließen.

6. Fall:

In einem kleinen, abhörsicheren Konferenzraum eines 5-Sterne-Hotels, sitzen einige gutgekleidete Herren beieinander und beraten die Marktlage. In ihrem Gespräch fallen Zahlen und Orte. Regionen und Länder. Von Quoten und Prozenten ist die Rede. Und von Preisen. Einem Beobachter würde erst später - wenn überhaupt - auffallen, daß bei der ganzen Sitzung nicht ein einziges Papierstück benötigt oder angefertigt wurde.

Es handelt sich in diesem Fall offenbar um verbotene Markt-Absprachen, ein Kartell auf der Basis eines sogenannten gentlemen agreements, also ohne schriftlichen Vertrag und damit nicht direkt beweisbar. Auch dieser Fall wird im offiziellen Sprachgebrauch nicht als Verschwörung bezeichnet, weil es sich hier nicht um politische Macht handelt, sondern um ökonomische Macht. Dennoch ist die Situation im 5-Sterne-Hotel eine genaue Parallele zu der im finsteren Hinterzimmer: Es wird heimlich beraten, um andere zu übervorteilen bzw. auszuschalten.
Wird also im 1. Fall offenbar die Obrigkeit hereingelegt, so ist in diesem Fall die Konkurrenz das Opfer, und - nicht nur nebenbei - auch noch der kleine Bürger. Egal, ob einer der Herrscher oben das Ziel ist oder das Volk unten oder die wirtschaftliche Konkurrenz auf der gleichen Ebene - es handelt sich in allen Fällen um eine Verschwörung zwecks Übervorteilung eines Gegners und Erschleichung von Macht hinter dessen Rücken. (Geld ist hierbei nur eines von mehreren möglichen Mitteln zur Macht, derzeit allerdings das verbreitetste. Geld ist grundsätzlich der Macht untergeordnet und nicht die Essenz von Macht, übrigens ein zentraler Denkfehler der dogmatischen Marxisten.) Ferner fällt hier auf, daß es offensichtlich unwichtig ist, ob die Verschwörer sich die Macht ihres Objektes aneignen wollen, sie könnten ebenso einfach nur die Macht des Konkurrenten resp. Herrschers brechen und beseitigen wollen, also ersatzlos streichen, was genauso ein Machtgewinn wäre (ein indirekter).

Um einen hinterhältigen Machtkampf dreht es sich auch im nächsten Beispiel, das eine Kombination aus dem 3. Fall (Einzeltat) und diesem 6. Fall ist:

7. Fall:

Das Büro von Fräulein, nennen wir sie X, also von Fräulein X hat eine neue Mitarbeiterin bekommen, nennen wir sie Fräulein Y. Aus irgendeinem, eigentlich völlig unwichtigen Grund kann Fräulein X das Fräulein Y nicht leiden, und sie beginnt, ihr bei der Einarbeitung halbvollständige Anweisungen und falsche Ratschläge zu geben, natürlich nur, wenn keine Zeugen anwesend sind. Ab und zu werden auch schon mal ein paar Akten, die Fräulein Y bearbeitet hatte, falsch abgeheftet. Oder sie wird beauftragt, Akten zu suchen, die es nicht gibt. Dabei wiederum stößt sie auf die Akten, die falsch abgeheftet sind und die sie sofort als "ihre" Akten erkennt; bis zum dritten Fund etwa hält sie sich selbst für den schusseligen Verursacher, dann aber beginnt in ihr ein Verdacht aufzukeimen. Nach weiteren ähnlichen Vorfällen stellt sie schließlich Fräulein X zur Rede. Doch diese lacht nur, tippt sich an den Kopf - am besten alles vor den Kollegen - und sagt: "Sie sollten vielleicht mal zum Psychiater gehen." Uns interessiert hier nicht weiter, wie diese Sache ausgeht.

Auch das Phänomen des Mobbings wird offiziell nicht als Verschwörung bezeichnet, obwohl es alle Elemente einer Verschwörung enthält und nichts als ein hinterhältiges Machtspielchen ist. Mobbing wird im übrigen oft auch von einer Gruppe betrieben. Und auch die (halb)offene Form des Mobbings, der intrigante Rufmord ist nichts anderes als eine Verschwörung.

Kommen wir nun zu einem ebenfalls ganz alltäglichen Fall, der genauso niemals als Verschwörung bezeichnet werden würde:

8. Fall:

In einem parlamentarischen Ausschuß, wo ein neues Gesetz mit bestimmten wirtschaftspolitischen Konsequenzen beraten und formuliert werden soll, sitzt der Politiker Z, der heimlich Zahlungen und andere Vergünstigungen des ABC-Konzerns erhält, mithin also ein Geheimagent der Wirtschaft ist. Bei der Formulierung des Gesetzestextes schafft es der findige Jurist Z, eine Klausel unterzubringen, die scheinbar allgemein gerecht ist, jedoch die speziellen Geschäftsvorhaben seiner Auftraggeber ungerechtfertigt begünstigt. Keiner seiner Ausschußkollegen bemerkt etwas.

Diese Art der "Lobby-Arbeit" eines korrupten Politikers ist selbstverständlich auch als verschwörerisch zu bezeichnen, ganz abgesehen von der Tätigkeit seiner Hintermänner.

Und noch einen Fall würde niemand als Verschwörung bezeichnen, obwohl er alle Kriterien einer Verschwörung erfüllt:

9. Fall:

Zwei Drittel des Parlamentes eines hier nicht näher genannten Staates sind Beamten. Sie bilden damit eine geschlossene Gruppe mit gemeinsamen Interessen, also eine Lobby. Nun ist gemäß des Grundgesetzes dieses Staates - es handelt sich um eine moderne Demokratie - die politische Lobby-Arbeit zwar erlaubt, aber nicht im Parlament, hier ist sie verboten. Natürlich haben sich diese betreffenden Personen nie zu einer gemeinsamen Sitzung getroffen, geschweige denn irgendwelche Beschlüsse miteinander gefaßt. Dennoch stimmen sie in allen Fragen, die ihre Interessen als Beamte und "Staatsdiener" betreffen, geschlossen ab, und verzerren somit die gesamt-gesellschaftliche Interessenslage im Parlament zu ihren Gunsten, machen also den Staat zu ihrem Diener und stellen damit die parlamentarische Demokratie auf den Kopf. (Hierbei ist besonders zu berücksichtigen, daß die Bürger daheim - und auch viele der Kollegen im Parlament - in aller Regel den braven Beamten ihren Status als Staatsdiener nicht an der Nasenspitze ablesen können.)

Seltsamerweise scheint niemandem die Widerrechtlichkeit und vor allem die Hinterhältigkeit dieser Tatsache aufzufallen, den anderen Parlamentariern nicht, den Wählern nicht und den Medien erst recht nicht. Und auch die Akteure selbst, die Beamten, scheinen gar nicht zu wissen, was sie da machen. (Oder handelt es sich um das perfekteste gentlemen agreement aller Zeiten, bei dem noch nicht einmal ein einziges Wort gefallen ist?)

Doch eine Verschwörung muß nicht immer zum Schaden anderer stattfinden, wie der nächste Fall zeigt:

10. Fall:

In einem totalitären Staat werden bestimmte Menschen verfolgt. Eine Ausreise wird ihnen nicht erlaubt. Im Gegenteil, sie müssen untertauchen und finden bei Freunden einen geheimen Unterschlupf im Keller. Bald verschärft sich die politische Lage, jeden Tag kann eine Razzia stattfinden. Den Helfern droht, selbst zu Opfern der Verfolgung zu werden. Also beschließen die Verfolgten, das Land heimlich nachts über die "grüne Grenze" zu verlassen. Über die Vermittlung von anderen Freunden findet man jemanden, der im Grenzgebiet wohnt und sich dort gut auskennt.

Die Planung und Durchführung einer Flucht aus einer bedrohlichen politischen Situation erfüllt ebenfalls sämtliche Kriterien einer Verschwörung. Sie dient zwar - unter den perfiden Bedingungen einer Diktatur - dem eigenen Vorteil,  gereicht aber anderen nicht zum Schaden, sondern dient lediglich der Wiederherstellung der persönlichen, "natürlichen" Macht.

Ganz ähnlich verhält es sich im zugegebenermaßen banalen nächsten Fall:

11. Fall:

Der Popstar X hat es satt, beim Shopping und anderen Freizeitaktivitäten ständig von seinen Fans belästigt zu werden. Er verändert sein Äußeres mit Bart und Brille, um sich mal wieder unbeobachtet unters Volk mischen zu können.

Der Unterschied zum untergetauchten Gangster, der sich sogar einer Gesichtsoperation unterzieht, um seiner gerechten Strafe zu entgehen, ist unter rein formalen Gesichtspunkten nicht vorhanden.

Schließlich gibt es aber noch die eigenartigste Form aller Verschwörungen. Wir kommen somit zum sprichwörtlich allerletzten Fall:

12. Fall:

Kaum ein Mensch fragt sich, was ist eigentlich wirklich normal und was nicht? Wir glauben sogenannten Experten die unmöglichsten Behauptungen, sie müssen nur laut genug herausgeschrien und oft genug wiederholt werden. Zu einer wirklich radikalen Skepsis scheint niemand mehr in der Lage zu sein.
Warum, zum Beispiel, dürfen ganz wenige Menschen riesige Landflächen ihr Eigentum nennen, während die meisten von uns nicht einen einzigen Quadratzentimeter Boden besitzen. Wer hat erlaubt, daß für geliehenes Geld Zinsen genommen werden darf. Woher haben die Lehrer und Journalisten ihr Wissen, das sie an uns und unsere Kinder weitergeben. Wer bestimmt, welche Fächer, welches Wissen gelernt werden darf, und was erforscht werden soll. Wem gehören grundlegende medizinische Patente im Falle einer Seuche? Kann man Pflanzen und Tiere, also Leben, patentieren lassen? Wem gehören die Bodenschätze? Dem der sie ausbeutet? Warum dürfen Grundversorgungen wie Wasser und Energie von Privat-Firmen kontrolliert werden? Warum müssen immer weniger Menschen immer härter arbeiten, während immer mehr andere keine Arbeit haben? Warum bestehen unsere Herrscher immer noch auf den Acht-Stunden-Tag, obwohl durch die Automatisierung längst nicht mehr soviel gearbeitet werden muß? Warum wählen wir Politiker, von denen wir genau wissen, daß sie uns verraten und betrügen werden? Und so weiter und so fort.

Die Dummheitsverschwörung ist die größte Verschwörung aller Zeiten, sie hat mittlerweile immense Ausmaße angenommen. Diese Verschwörung gegen sich selbst wird seltsamerweise von allen Menschen in brüderlicher und schwesterlicher Eintracht gemeinsam betrieben, und gipfelt derzeit in der Selbstunterdrückung aller (auch der Bosse unter ihre Arbeit und ihre Machtfunktion) und in freiwilliger Selbstunterwerfung unter das "System". Auch diese Verschwörung - letztlich gegen die eigene Freiheit - wird nicht als Verschwörung begriffen, obwohl sie alle Kriterien erfüllt: Hinterhältigkeit, nämlich den verlogenen Selbstbetrug, und Machtkampf, nämlich die Selbst-Entmachtung und freiwillige Ohnmacht sogar der angeblich Mächtigen. Wir dürfen an dieser Stelle damit schon einmal eine beruhigende Zwischenbilanz ziehen: wenigstens in Bezug auf den Erhalt und die Steigerung ihrer Dummheit ziehen alle Menschen gemeinsam und vereint an einem Strang.


Es ist also festzustellen:
Verschwörungen sind überhaupt nichts besonderes, sondern etwas ganz alltägliches, mit dem wir von morgens bis abends leben.
Dennoch gilt eine Verschwörung offiziell als absolute Ausnahme, die - im Falle einer politischen Verschwörung - üblicherweise als Hochverrat mit der Todesstrafe geahndet wird, in den modernen sog. Demokratien neuerdings "nur" mit lebenslanger Haft. Tatsächlich aber ist, wie wir gesehen haben, der Übergang von der politischen zur wirtschaftlichen und weiter zur privaten Verschwörung derart fließend, daß diese scheinbar völlig verschiedenen Vorgänge sich in der praktischen Wirklichkeit nicht von einander abgrenzen lassen.
Der ganze Bereich vom Kampf um die Weltherrschaft bis zum kleinen Schabernack mit der eigenen Identität auf einem Maskenball, vom Krieg bis zum Mobbing und vom Mord bis zum trickreichen Überlebenskampf - alles geht fließend ineinander über und hängt über unsere unvermeidbar soziale Existenz untrennbar miteinander zusammen.
Und eine phänomenologische Klassifikation der Verschwörungen hat mit unserer moralisch-ethischen Wertung (die zum Teil höchst variabel resp. fraglich ist) rein gar nichts zu tun.


Obwohl nun die Verschwörung eine ganz alltägliche Angelegenheit ist, wie wir gesehen haben, ist sie dennoch in ihrer essentiellen Dunkelheit und Rätselhaftigkeit grundsätzlich würdig, sowohl als Gesamt-Phänomen hinterfragt, untersucht und wenn möglich bewertet zu werden, als auch aufgrund ihrer Vielgestaltigkeit und Vielseitigkeit insgesamt interessant genug, um eine eigene wissenschaftliche Diszplizin zu erhalten, die sich mit maximaler Redlichkeit um sie kümmert.
Wir rufen hiermit (unseres Wissens als erste) zur Gründung der Wissenschaft von der Verschwörung auf, der Conspirologie.
Und wir beginnen gleich mit dem ersten Schritt, nämlich nach dem vorangegangenen phänomenologischen Überblick, mit einer - vorläufigen - Definition der Verschwörung.

Anmerkung: Der Begriff Conspirologie wird bereits verwendet, meist abwertend oder ironisch, nicht aber im wissenschaftlichen Sinn.


Eine Definition der Verschwörung lautet also: hinterhältiger, skrupelloser Machtkampf.
Der Verschwörer tut etwas ganz unerhörtes: er stellt sich über Gesetz und Moral und nimmt sich die Freiheit, seine eigene "überlegene" Ethik zu definieren; dabei wird
1) der Gegenstand der Macht als "alles oder nichts" verabsolutiert, also ideologisch "extremistisch" überhöht,
und
2) tabulos agiert und bei der Wahl der Mittel einzig auf deren erfolgversprechende Wirkungskraft gesetzt, also auch methodologisch radikalisiert. ("Der Zeck heiligt die Mittel.")
Die Vorgehensweise bzw. die Wahl der Mittel wird hier einzig bestimmt durch die Frage, ob die Verschwörung nach erfolgreicher Durchführung öffentlich wird (z.B. bei der klassischen Revolution), oder ob sie geheim bleiben soll (z.B. Wirtschaftsspionage).

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